Schlafentzug ist eine seit mehreren Dekaden gebräuchliche chronotherapeutische Behandlungsmöglichkeit für depressive Störungen. Die Schlafentzugsbehandlung ist schnell und gut wirksam, einfach durchführbar, nicht-invasiv, kosteneffizient und eignet sich für die ambulante und stationäre Depressionstherapie. Schlafentzug führt im Gehirn zu einer funktionellen Dissoziation des anterioren Cingulums vom Ruhenetzwerk, sowie zu einer verstärkten Rekrutierung des dorsolateralen Präfrontalkortexes. Eine leitlinienorientierte Therapie beinhaltet Schlafentzug als ergänzendes Element für eine rasche Response und zur Augmentation einer bestehenden Behandlung. Bei Patienten mit Krampfanfällen in der Anamnese oder wahnhafter Depression sollte kein Schlafentzug durchgeführt werden.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Affektivität und chronobiologischen Rhythmen. Dem Schlaf-Wach-Zyklus kommt in dieser Hinsicht eine besondere Rolle zu: Veränderungen der Schlafarchitektur und des Affekts, ganz gleich ob in Richtung des depressiven oder des manischen Pols, bedingen sich gegenseitig. Etwa 60–80% der Patienten mit einer depressiven Störung leiden auch an insomnischen Beschwerden. Häufig gehen Schlafstörungen – vor allem morgendliches Früherwachen – einer depressiven Episode unmittelbar voraus. So scheint es auf den ersten Blick paradox, dass eine Restriktion des Schlafs bei einer schon manifesten Depression zu einer klinisch relevanten Symptomlinderung führen kann. Schlafentzugsbehandlung, oder Wachtherapie, wird zur Gruppe der Chronotherapeutika gerechnet. Dabei werden Umgebungsbedingungen so verändert, dass Biorhythmen von Patienten gezielt beeinflusst werden (z.B. Schlafentzug, Schlafphasenverschiebung, Lichttherapie, Dunkeltherapie). In über 60 Studien wurde gezeigt, dass 50–80% aller depressiven Patienten deutlich von Schlafentzug profitieren. Gerade bei komplizierten Behandlungsbedingungen wie der bipolaren Depression, die mit geringem Ansprechen auf antidepressive Medikation assoziiert ist, kann bei über der Hälfte der Patienten ein antidepressiver Effekt erzeugt werden [1]. Dabei ist die Effektstärke vergleichbar mit der von Standardantidepressiva, bei gleichzeitig besserer Verträglichkeit. Als besonders wichtiges Charakteristikum kommt hinzu, dass der gleiche antidepressive Effekt, der bei antidepressiver Medikation erst nach vier bis sechs Wochen erreicht wird, schon innerhalb von 24 – 48 Stunden eintritt. Schlafentzug und die bis dato noch wenig etablierte Behandlung mit Ketamin-Infusionen sind damit die beiden einzigen verfügbaren antidepressiven Therapiestrategien mit unmittelbarem Wirkeintritt [2].

Ein Nachteil der Behandlung ist die nur kurze Dauer der Wirkung: So erleiden über 80% der Patienten schon nach einer Nacht des Schlafens (der sog. Erholungsnacht) wieder einen Rückfall [3], gewisse Patienten bereits schon nach kurzen «Naps» bzw. Kurzschlafepisoden während des Tags nach Schlafentzug. Dennoch gibt es Studien, die nach totalem Schlafentzug eine anhaltende Response bei 5–10% der untersuchten bipolar-depressiven Patienten zeigten. In den letzten Jahren wurden diverse Strategien entwickelt, um eine anhaltende Remission zu erzeugen (z.B. Kombinationen mit Lithium, Antidepressiva und Lichttherapie). Der starke und unmittelbare, aber nur kurz anhaltende antidepressive Effekt macht den Schlafentzug auch zu einer bevorzugten experimentellen Methode in der Depressionsforschung, da hier offensichtlich ein neurobiologischer Mechanismus ausgelöst wird, der in Form eines «Switchs» über den System­zustand «depressiv» oder «nicht-depressiv» entscheidet. Nachdem zu Beginn vor allem die Effekte von Schlafentzug auf die elektrophysiologisch-homöosta­tische Regulation sowie auf die Neurotransmission untersucht wurden, die eine Steigerung des serotonergen, noradrenergen und dopaminergen Tonus zeigten, kam in neueren Untersuchungen vor allem die funktionelle zerebrale Bildgebung zur Anwendung.

Veränderungen der Hirnkonnektivität nach Schlafentzug

In frühen Studien mit Positronen-Emissions-Tomografie (PET) konnte gezeigt werden, dass bestimmte depressive Patienten eine metabolische Hyperaktivität im anterioren cingulären Kortex (ACC) und eine Hypoaktivität im dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFC) aufwiesen. Eine gegenläufige Normalisierung dieser Veränderungen korrelierte mit einer Linderung der Depressionssymptome. Neue Forschungsmethoden, wie die Analyse der Konnektivität von Hirnnetzwerken mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI), haben zu einem weiteren Verständnis der Pathophysiologie depressiver Syndrome geführt. So konnte ein als Dorsal Nexus bezeichnetes Areal im präfrontalen Kortex identifiziert werden, welches bei depressiven Patienten eine ausgeprägte Hyperkonnektivität zu verschiedenen Hirnnetzwerken aufweist [4]. Dieses Areal kann möglicherweise als Zielstruktur oder Biomarker für die Erforschung antidepressiver Therapien dienen.

Eine Untersuchung unserer eigenen Arbeitsgruppe zeigte nun, dass Schlafentzug bei Gesunden zu einer funktionellen Dissoziierung des ACC vom Ruhenetzwerk führt, bei gleichzeitig verstärkter Re­krutierung von Arealen des DLPFC über den Dorsal Nexus. In weiteren Studien gilt es zu prüfen, ob depressive Patienten mit einer pathologischen Überaktivierung des ACC bei gleichzeitiger Unteraktivität des DLPFC – wie sie aus früheren Studien bekannt sind – spezifisch von einer dieses Muster korrigierenden Intervention durch Schlafentzug profitieren [5].

Praxis des Schlafentzugs in der Depressionsbehandlung

Trotz der guten wissenschaftlichen Evidenz über die Effektivität und Sicherheit der Schlafentzugsbehandlung hat sie vor allem in der Grundversorgung noch keinen angemessenen Stellenwert. In der S3-/Nationalen Versorgungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wird sie vor allem im Rahmen des multimodalen Angebots psychiatrisch-psychotherapeutischer Stationen gesehen. Das stationäre Setting ist insofern vorteilhaft, da das Wachbleiben durch Gruppenbildung von Patienten mit Schlafentzug und die Kontrolle durch das Pflegeper­sonal erleichtert wird.

Die leichte Anwendbarkeit, Nichtinvasivität sowie Kosteneffizienz machen sie aber auch für den ambulanten Einsatz attraktiv. Gemäss S3-Leitlinie sollte der Schlafentzug als Add-On-Massnahme zu einer bestehenden Behandlung eingesetzt werden, vor allem wenn eine schnelle Response erreicht oder eine ungenügende Therapie augmentiert werden soll (Tab. 1) [6].

Als Indikationen gelten sowohl die unipolare als auch die bipolare Depression, besonders bei therapierefraktären Verläufen. Dabei scheinen bipolare Patienten sogar besser zu profitieren als unipolare, sodass manche Autoren die Primärindikation für Schlafentzugsbehandlung bei dieser Patientengruppe sehen [7]. Als klinische Prädiktoren für eine Response auf Schlafentzug gelten Stimmungsschwankungen im Tagesverlauf sowie das Vorliegen von einem somatischen Syndrom («melancholic depression»).

Da Schlafentzug zu einer Senkung der Krampfschwelle führt, sollten Patienten mit Krampfanfällen in der Anamnese nicht oder nur unter intensiver kontinuierlicher Überwachung auf diese Weise behandelt werden. Dasselbe gilt für Patienten mit wahnhafter Depression, akuter Suizidalität und Multimorbidität. Die Hauptnebenwirkung ist naheliegenderweise eine verstärkte Tagesmüdigkeit, weshalb Patienten während der Wachphasen keine Fahrzeuge lenken sollten. Zudem sind manische Switches bei bipolaren Patienten beschrieben, das Risiko liegt jedoch nicht über dem von SSRIs. Daher sollte bei Patienten mit Rapid Cycling besondere Vorsicht geboten sein. Aufgrund des körperlichen Stresses, den Schlafentzug auslöst, sollte auch besonders auf das Vorliegen von kardiovaskulären Erkrankungen geachtet werden (Tab. 2).

Praktisch kommen zwei Formen der Schlafentzugsbehandlung zur Anwendung:

  • Beim partiellen Schlafentzug geht der Patient gegen 22:00 Uhr schlafen, wird um 1:00 (oder 3:00) Uhr derselben Nacht geweckt, und geht dann am folgenden Abend wieder regulär schlafen.
  • Beim totalen Schlafentzug steht der Patient um 7:00 Uhr des ersten Tages auf und durchläuft eine Wachphase von 36 Stunden bis um 19:00 Uhr des Folge­tages. Darauf folgt ein zwölfstündiger Erholungsschlaf bis um 7:00 Uhr des nächsten Tages, worauf ein erneuter Zyklus beginnen kann (Abb. 1).

Evidenzbasiert ist die Durchführung von drei Perioden mit totalem Schlafentzug innerhalb einer Woche. Eine schon bestehende Medikation soll auf jeden Fall weitergeführt werden, ggf. sollten jedoch Anpassungen bei sedierenden Medikamenten erfolgen, um das Wachbleiben nicht unnötig zu erschweren. Eine weitere Möglichkeit der Verstärkung und ggf. der Verlängerung des antidepressiven Effekts des Schlafentzugs besteht darin, Kombinationen mit Antidepressiva und Lithium (laut S3-Leitlinie auch Pindolol und Schilddrüsenhormonen) einzusetzen. Eine Schlafentzugs­behandlung kann jedoch auch ohne zusätzlich bestehende Medikation durchgeführt werden [8]. Besonders erfolgversprechend scheint ein Protokoll zu sein, bei dem während der Wachphasen und am Morgen nach dem Erholungsschlaf zusätzlich Lichttherapie (10’000 Lux über mindestens 30 Minuten) appliziert wird [9].

Die Wirksamkeit der Schlafentzugsbehandlung konnte in zahlreichen internationalen Studien mit tausenden von depressiven Patienten gezeigt werden. Eine rationale und wissenschaftlich fundierte Kombination mit anderen chronotherapeutischen Interventionen wie der Lichttherapie verbessert das Outcome, das vergleichbar mit dem einer pharmakologischen Behandlung ist, bei deutlich schnellerem Wirkbeginn und weniger unerwünschten Nebenwirkungen. Ein in den letzten Jahren entstandenes Manual erleichtert zudem die Umsetzung der Schlafentzugsbehandlung im ambulanten und stationären Setting [10].

Der Einsatz von Schlafentzug in der medizinischen Forschung hat faszinierende Einblicke in die Zusammenhänge von Affektivität und Chronobiologie geliefert. Aufgrund der wachsenden Evidenz über die Effektivität und Sicherheit der Schlafentzugsbehandlung sowie der Relevanz ihrer Biomechanismen wird sie von zunehmend mehr Klinikern und Forschern als Firstline-Therapie affektiver Störungen angesehen [7].

Literatur:

  1. Wirz-Justice A, Terman M: Handb Clin Neurol 2012; 106: 697–713.
  2. Bunney BG, Bunney WE: Biol Psychiatry 2013; 73(12): 1164–1171.
  3. Hemmeter UM, Hemmeter-Spernal J, Krieg JC: Expert Rev Neurother 2010; 10(7): 1101–1115.
  4. Sheline YI, et al.: Proc Natl Acad Sci U S A 2010; 107(24): 11020–11025.
  5. Bosch OG, et al.: Proc Natl Acad Sci U S A 2013; 110(48): 19597–19602.
  6. DGPPN, et al.: 2010, Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag GmbH.
  7. Benedetti F, Colombo C: Neuropsychobiology 2011; 64(3): 141–151.
  8. Bauer M, et al.: World J Biol Psychiatry 2013; 14(5): 334–385.
  9. Dallaspezia S, Benedetti F: Expert Rev Neurother 2011; 11(7): 961–970.
  10. Wirz-Justice A, Benedetti F, Terman M: 2009, Basel, ­Switzerland: Karger.

Dr. med. Oliver Gero Bosch

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